8.4 Strahlentherapie der AML
8.4.1 Indikationen
Die Strahlentherapie kommt im Gesamttherapiekonzept der akuten myeloischen Leukämie (AML) im Erwachsenen- und Kindesalter in einer Reihe verschiedener Situationen risikoadaptiert zum Einsatz.
Ziel einer lokalen Strahlentherapie ist es, das Auftreten von Rezidiven in solchen Regionen zu verhindern, die entweder wegen eines großen initialen Tumorvolumens (z.B. großer Mediastinaltumor) oder durch besondere anatomische Gegebenheiten (z.B. Blut-Hirn-Schranke) nicht oder nicht ausreichend durch die Chemotherapie erreicht werden können und somit möglicherweise einen Ausgangspunkt für Rezidive darstellen. Für alle kindlichen AML-Patienten ist deshalb in den aktuellen Therapieprotokollen der AML-BFM-Studiengruppe eine prophylaktische Bestrahlung des Zentralnervensystems vorgesehen. Bei manifestem zentralnervösem Befall ist eine Strahlentherapie auf jeden Fall indiziert.
In zunehmendem Maße wird eine Ganzkörperbestrahlung im Rahmen einer allogenen Knochenmarktransplantation eingesetzt.
Weitere mögliche Indikationen für eine Strahlentherapie sind mediastinale Tumormanifestationen sowie ein initial oder im Rahmen eines Rezidivs aufgetretener Hodenbefall [Deutsche Krebsgesellschaft und Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie 2002] [Haase W 1998].
8.4.2 Prophylaktische Schädelbestrahlung
Kinder
Im Allgemeinen erfolgt eine Behandlung des Zentralnervensystems (ZNS) bei nachgewiesenem Befall oder präventiv mittels einer intrathekalen Gabe von Cytarabin oder Methotrexat (evtl. kombiniert mit Hydrokortison) und einer ZNS-Bestrahlung. Im historischen Kontext konnte als erster Dahl im Jahre 1978 eine ausgeprägte Reduktion der ZNS-Rezidive und eine deutliche Verbesserung des Gesamtüberlebens durch eine ZNS-Bestrahlung zeigen [Dahl GV 1978]. In Anbetracht möglicher strahlenbedingter Nebenwirkungen am ZNS, insbesondere einer Einschränkung neurokognitiver Leistungen, und des Risikos einer Induktion von Zweitmalignomen kam es zunächst zu einer Einschränkung des Zielvolumens von einer kraniospinalen Bestrahlung zu einer ausschließlichen Schädelbestrahlung. Zunehmend wird jedoch auch die Indikation zur prophylaktischen Schädelbestrahlung infrage gestellt. Die meisten Studiengruppen konnten keinen Vorteil für eine Schädelbestrahlung zeigen, mit Ausnahme der deutschen AML-BFM-87-Studie, die eine Reduktion der Rezidive im Knochenmark feststellte [Creutzig U 1993]. Deshalb wird in Deutschland weiterhin eine prophylaktische Schädelbestrahlung durchgeführt, die hinsichtlich der Dosis sowohl in der abgeschlossenen AML-BFM-98-Studie als auch in der aktuellen AML-BFM-2004-Studie zwischen 12 und 18 Gy randomisiert wird.
Erwachsene
Im Vergleich zur akuten lymphatischen Leukämie (ALL) des Erwachsenenalters, aber auch im Vergleich zur AML bei Kindern ist bei Erwachsenen mit AML ein ZNS-Befall sehr viel seltener zu verzeichnen. Deshalb wird eine prophylaktische ZNS-Bestrahlung bei der AML des Erwachsenen in der Regel nicht durchgeführt [Bremer M 2002].
Technik und Dosierung
Die Bestrahlung des Neurokraniums wird in der Regel über seitliche Gegenfelder durchgeführt. Zum Divergenzausgleich im Bereich der Orbita liegt der Zentralstrahl meist in Höhe der Lidwinkel. Das Zielvolumen umfasst die gesamten zerebralen Liquorräume. Die Bestrahlungsfelder müssen deshalb den gesamten Schädelumfang einschließen, und nach kaudal wird der Spinalkanal bis auf Höhe des Zwischenwirbelraums C2/3 miterfasst. Gesichtsschädel und Augenlinse werden mittels eines individuellen Gesichtsblocks abgedeckt, wobei auf eine komplette Bestrahlung der Lamina cribrosa und der Temporalpole zu achten ist. Bei Kindern müssen die beiden ersten Halswirbelkörper komplett im Bestrahlungsfeld zu liegen kommen, um Wachstumsasymmetrien zu vermeiden. Die Bestrahlungsdosis beträgt üblicherweise 12(-18) Gy in einer Fraktionierung von 5-mal 1,5 Gy/Woche [Schuck A 2004].
Nebenwirkungen und Risiken
Bis zu 3 Monate nach Bestrahlung kann es zu einem sog. Apathiesyndrom kommen, das meist keiner speziellen Therapie bedarf und sich in der Regel spontan zurückbildet. Des Weiteren besteht ein geringes Risiko für die Induktion zerebraler Zweitmalignome [Loning L 2000]. Bei Kindern wird auch über eine bleibende Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten nach ZNS-Bestrahlung berichtet.
8.4.3 Strahlentherapie bei Befall des Zentralnervensystems
Indikationen
Bei manifestem Befall des ZNS oder der Hirnhäute kann eine Bestrahlung der gesamten Liquorräume (kraniospinale Achse) oder eine alleinige Schädelbestrahlung indiziert sein. In den AML-BFM-98- und -2004-Studien erhalten Kinder, die älter als ein Jahr sind, bei nachgewiesenem ZNS-Befall eine Schädelbestrahlung mit 18 Gy.
Technik
Die Bestrahlungstechnik des Neurokraniums ist in Kap. 8.4.2 beschrieben. Die Bestrahlung der kraniospinalen Achse wird im kranialen Anteil in ähnlicher Weise über 2 seitlich opponierende Schädelfelder durchgeführt. Auch hier werden Linse und Gesichtsschädel ausgeblendet, und es ist auf eine komplette Erfassung von Lamina cribrosa und Temporalpolen zu achten. Die Bestrahlung des Spinalkanals erfolgt je nach Größe des Patienten über ein bis 2 dorsale Felder. Die Kollimatordrehung der Schädelfelder wird der Divergenz des oberen spinalen Feldes angepasst. Die spinalen Felder müssen unter Berücksichtigung der Divergenz so aneinander angeschlossen werden, dass es zu keiner Feldüberschneidung im Rückenmark kommt. Das kaudale Ende des Spinalkanals (Cauda equina) muss nach bildgebenden Kriterien (Magnetresonanztomographie) komplett erfasst sein.
8.4.4 Ganzkörperbestrahlung (Total body irradiation, TBI) bei Stammzelltransplantation
Indikationen
Bezüglich der Indikationen zu einer autologen oder allogenen Stammzelltransplantation im Rahmen der Therapie der AML sei auf Kap. 8.3 verwiesen. Die TBI ist wegen der relativ hohen Strahlenempfindlichkeit myeloischer und lymphatischer Zellen ein wichtiger Teil traditioneller Strahlen- und Chemotherapieprotokolle vor allogener oder autologer Knochenmark- oder Blutstammzelltransplantation. Die Wirkmechanismen beinhalten die Vernichtung klonaler maligner Zellen, die Eliminierung des Knochenmarks des Empfängers vor der Transplantation (myeloablative Therapie) und im Fall einer allogenen Transplantation die Unterdrückung der Immunreaktion des Empfängers gegenüber dem allogenen Transplantat (immunablative Konditionierungstherapie) [Bremer M 2002].
In Deutschland werden jährlich etwa 750 TBI durchgeführt. Davon entfielen im Zeitraum 1998-2002 etwa 11% auf Patienten mit AML [Heintzelmann F 2006]. Die TBI wird insbesondere bei akuten Leukämien international zunehmend als bevorzugte Konditionierungsmaßnahme vor Stammzelltransplantation eingesetzt [Belkacemi Y 1998] [Heintzelmann F 2006] [Igaki H 2005]. In einer randomisierten Studie konnte gezeigt werden, dass die Konditionierung mit TBI bei Patienten mit AML einer TBI-losen Konditionierung überlegen war [Blaise D 1992] [Blaise D 2001].
Technik und Dosierung
Die Ganzkörperbestrahlung erfolgt üblicherweise mit einer Dosis von 8-12 Gy in einer Fraktionierung von 2-mal 2 Gy/Tag (aus strahlenbiologischen Gründen im Abstand von mindestens 6 Stunden).
Der gesamte Körper - unter Einschluss der Haut - wird als Zielvolumen definiert. Weltweit wurden sehr viele verschiedene Techniken der Bestrahlung entwickelt. Die Bestrahlung erfolgt nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Radioonkologie (DEGRO) und der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Physik (DGMP) am besten über ventrodorsale Gegenfelder oder aus 4 Einstrahlrichtungen (ventrodorsal und bilateral; s. Abb. 8.8). Die einzelnen Bestrahlungsoptionen können aus einem einzelnen Bestrahlungsfeld (großer Abstand), mehreren Feldern oder einer Translationsbestrahlung bestehen [Arbeitskreis "Ganzkörperbestrahlung" der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Physik e.V. 2003]. Dosisinhomogenitäten aufgrund der irregulären Körperform werden mittels computertomographischer Planung und/oder Dosimetrie bestimmt und entsprechend ausgeglichen. Die Lungendosis wird auf einen definierten Wert limitiert, z.B. 80% der Gesamtdosis oder 8 Gy absolut.
Abb. 8.8: Bestrahlungssituation bei der Ganzkörperbestrahlung mit einem einzelnen Bestrahlungsfeld pro Einstrahlrichtung aus großem Abstand. Die Gantry des Linearbeschleunigers ist seitlich gekippt (270 Grad), sodass ein horizontaler Strahlengang resultiert. Die Bestrahlung aus insgesamt 4 Richtungen (ventrodorsal und bilateral) erfolgt über eine Umlagerung des Patienten, der wegen des erforderlichen Abstands nicht auf dem Bestrahlungstisch (im Hintergrund zu erkennen), sondern in einem üblichen Krankenbett liegt. An der dem Linearbeschleuniger zugewandten Seite des Krankenbetts befindet sich eine Plexiglasplatte zur Dosishomogenisierung.
Nebenwirkungen und Risiken
Akuttoxizität (meist reversibel):
- Knochenmarkaplasie
- Infektionen
- Blutungen
- Mukositis (Mund-Rachen-Raum, Magen-Darm-Trakt)
- Parotitis
- Nausea/Emesis
- Herzrhythmusstörungen
- Kardiomyopathie
- Niereninsuffizienz
- Zystitis
- radiogene Pneumonitis
- Haarausfall
- Nagelwachstumsstörungen
Spättoxizität:
- Haarausfall
- Katarakt
- Hypothyreose
- Lungenfibrose
- Kardiomyopathie
- Störung der Hormonproduktion und der Fertilität
- bei Kindern: Wachstumsstörungen, Sekundärmalignome
Sonstige Indikationen
Bei Kindern mit ein- oder beidseitigem Hodenbefall wird eine therapeutische Hodenbestrahlung mit 20-24 Gy empfohlen [Bremer M 2002] [Schuck A 2004].
Bei Patienten mit ausgedehntem Mediastinaltumor kann eine mediastinale Strahlentherapie sinnvoll sein. Zunächst ist es meist angeraten, das Ansprechen auf die Chemotherapie abzuwarten. Eine Bestrahlung des Mediastinums kommt im Fall eines mediastinalen Resttumors nach Chemotherapie mit Nachweis vitaler leukämischer Infiltrate in Betracht [Schuck A 2004]. Eine initiale Mediastinalbestrahlung vor Chemotherapie ist - oft mit notfallmäßigem Beginn - bei Vorliegen einer oberen Einflussstauung und unzureichender Geschwindigkeit der Chemotherapiewirkung indiziert.
Bei symptomatischem Milzbefall mit Splenomegalie und daraus resultierenden Abdominalschmerzen, Anämie oder Thrombopenie kann eine palliative Milzbestrahlung mit 2-10 Gy in Einzeldosen von 0,2-1 Gy durchgeführt werden. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle lassen sich hierdurch eine Milzverkleinerung und eine Beschwerdelinderung erzielen [Bremer M 2002] [Weinmann M 2001].
Zur Behebung lokaler leukämiebedingter Beschwerden kann eine palliative Strahlenbehandlung in verschiedenen weiteren Fällen sinnvoll sein, z.B. bei frakturgefährdeten oder schmerzhaften Osteolysen, drohender oder manifester Nervenkompression durch leukämische Raumforderungen oder anderweitigen somatischen oder psychischen Beeinträchtigungen durch große Lymphommassen [Bremer M 2001].
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