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8.7 Palliativmedizinische Betreuung
8.7.1 Definition
Palliativmedizin wird unterschiedlich definiert. Ursprünglich hatte sich das Fach aus der Betreuung onkologischer Patienten in der letzten Lebensphase entwickelt und zeichnet sich durch eine Haltung zum sterbenskranken Menschen aus, die in der Akzeptanz des Unweigerlich-sterben-Müssens das Optimale an Therapie (Schmerztherapie und Symptomkontrolle) und Zuwendung sucht und die Bedürfnisse des Kranken partnerschaftlich anerkennt. Die Definition der WHO aus dem Jahre 2002 geht wesentlich weiter, indem sie Palliative care definiert "als einen Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Angehörigen, die mit Problemen konfrontiert sind, welche mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen - und zwar durch Vorbeugen und Lindern von Leiden, durch frühzeitiges Erkennen, untadelige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen belastenden Beschwerden körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art."
Die WHO-Definition sieht den Eintritt der palliativen Situation eher von der Seite einheitlich anzuwendender Behandlungsprinzipien während lebensbedrohlicher Krankheitsphasen. Solche bestehen bei Leukämiekranken per definitionem mit der Diagnosestellung, unter Einleitung einer kurativ intendierten Therapie wie auch während der finalen Therapiephase bei inkurabler Leukämie. Somit ist während des gesamten Krankheitsverlaufs eine psychoonkologische und medizinisch-supportive Betreuung der Patienten gefordert. Insbesondere die kommunikative Kompetenz und die Integration psychosozialer Aspekte in das Gesamtbehandlungskonzept von Leukämiepatienten müssen in Forschung und Lehre noch weitergehend thematisiert werden.
Berücksichtigt man alle Alters- und Risikogruppen, so steht außer Frage, dass mehr als die Hälfte der Patienten mit AML an der Erkrankung oder an einer Komplikation der Therapie verstirbt. Angesichts dieser Tatsache wird bei Sichtung von Literatur und einschlägigen Lehrbüchern ein Mangel an Konzepten zur palliativen Betreuung dieser Menschen augenfällig. Fragen der Krankheitsbewältigung, der Gesprächsführung und der ambulanten Betreuung bei refraktärer Leukämie in den letzten Lebenswochen (Bedeutung der Komorbidität, der Transfusionsstrategie sowie der antibiotischen Prophylaxe und Therapie) spielen derzeit in der Fachliteratur keine angemessene Rolle.
Aus der Sicht des Behandlers kann das Sterben im Verlauf einer Leukämieerkrankung unter 3 unterschiedlichen Konstellationen des Gesamtverlaufs erfolgen.
- Bei theoretisch bestehender kurativer Chance kann der Tod im Verlauf der Therapie (sei es Primärtherapie oder Rezidivbehandlung) als Folge der Zytopenie durch Infektion oder Blutung, selten durch andere dominante Formen des Organversagens eintreten. Im Extremfall kann dies ein Tod in Remission durch eine Komplikation, z.B. einer konsolidierenden Behandlung, sein. Man mag diese Konstellation mit dem kriegerischen Bild des "Untergangs mit fliegenden Fahnen im Kampf" beschreiben.
- In größerer Distanz zur letzten Therapie kann der Tod durch Progression oder Rezidiv der Grunderkrankung eintreten, ohne dass zu diesem Zeitpunkt noch wesentliche therapiebedingte Belastungen vorliegen müssen.
- Eine weitere Form des Sterbens ergibt sich aus Spätkomplikationen einer im Hinblick auf die Grundkrankheit "erfolgreichen" Therapie, z.B. durch eine schwere Graft-versus-Host-Krankheit nach allogener Transplantation oder durch eine anthrazyklinbedingte Herzinsuffizienz.
Grundanliegen palliativmedizinischen Arbeitens sind neben einer offenen, sensiblen Kommunikation die Einbeziehung des sozialen Umfeldes und der Familie sowie nicht zuletzt eine effektive Symptomkontrolle.
8.7.2 Kommunikation
Die Qualität des Aufklärungsgespräches hat für eine konstruktive und klärende Kommunikation zwischen Arzt, Patient und Angehörigen eine kritische Bedeutung. Eine Leukämietherapie ist dann zur Zufriedenheit aller durchführbar, wenn Erklärungen über die Erkrankung tatsächlich am Horizont des Patienten und ggf. der Angehörigen anknüpfen und darüber hinaus eine interaktive Kommunikation erlauben. Die Mitteilung der Diagnose "Leukämie" bleibt unabhängig vom Erfolg der Therapie den Patienten unmittelbar in allen Einzelheiten gegenwärtig. Die Einzigartigkeit des betroffenen Erlebens steht im Gegensatz zur eigenen Erfahrung der Alltäglichkeit des Arztes an einer spezialisierten Einrichtung, der solche Gespräche nahezu täglich führen muss, oft ohne je dafür eine Schulung erfahren zu haben. Noch größere Unsicherheit besteht gelegentlich bei zuweisenden Ärzten, die sich in der Situation der Erstdiagnosestellung manchmal noch nicht einmal der Diagnose sicher sein können ("Wir können nichts für Sie tun, wir verlegen Sie in die Universitätsklinik …"). Interessierte seien auf entsprechende Literatur zur Gesprächsführung in solchen Lebenssituationen verwiesen [Back AL 2005] [Kappauf HW 2004]. Hier können nur einige Hinweise gegeben werden.
Im Kontext von Aufklärungen über Krebserkrankungen ist aus Befragungen bekannt, dass es Patienten in der Regel bevorzugen, wenn das Wort "Krebs" und nicht irgendwelche Umschreibungen ("Wucherungen", "Geschwulst") verwendet werden. In Analogie darf davon ausgegangen werden, dass man sich nicht scheuen sollte, das Wort "Leukämie" oder auch "Blutkrebs" auszusprechen.
Hinsichtlich der wesentlichen Dimensionen eines Aufklärungsgespräches über eine bösartige Erkrankung hat sich das von der amerikanischen Krebsgesellschaft propagierte Akronym "SPIKES" als Engramm etabliert, das 6 wesentliche Punkte der Planung und Durchführung zusammenfasst (s. Tab. 8.5). Grundsätzlich ist beim Erstgespräch davon auszugehen, dass durch die emotional belastende Situation die Aufnahmefähigkeit eingeschränkt ist, was wiederholte Gespräche über einen längeren Zeitraum erforderlich macht.
Tab. 8.5: SPIKES-Engramm zur Memorierung wesentlicher Dimensionen eines kritischen Gespräches | Englische Bezeichnung | Deutsche Bezeichnung | Inhalt | Setting | Situation | - Gestaltung der Gesprächssituation, der örtlichen Gegebenheiten und des Gesprächs
- Beachtung von Körpersprache und Körperkontakt
- Unterstütztes Zuhören (offene Fragen)
- Reagieren, Wiederholen, Klären
| Perception | Patientenvorwissen | - Ergründen, was der Patient weiß und denkt
- Erkennen, wie der Patient sich ausdrückt und was er verstehen kann (mit welchen Begriffen werden Beschwerden durch den Patienten beschrieben und erklärt?)
- Erfassen seiner subjektiven Krankheitstheorie
| Invitation | Informationsbedarf | - Herausfinden, was und wie viel der Patient erfahren möchte
- Akzeptieren, wenn zu diesem Zeitpunkt kein Informationsbedarf besteht
| Knowledge | Kenntnisvermittlung | - Informationen in für den Patienten verständlicher Sprache und in überschaubaren Portionen geben
- Das Verständnis überprüfen
- Unterstütztes Zuhören (offene Fragen)
- Reagieren, Wiederholen, Klären
| Empathy, Emotion | Emotionen wahrnehmen | - Reaktionen und Emotionen des Patienten wahrnehmen, identifizieren und empathisch ansprechen.
| Summary | Strategien und Zusammenfassung | - Zusammenfassen der beiderseits gegebenen Informationen
- Planung des weiteren Vorgehens
- Vergabe weiterer Termine etc.
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Wichtig erscheint es anzumerken, dass das Verständnis des Patienten für pathophysiologische Zusammenhänge gelegentlich weit weniger ausgeprägt ist, als der aufklärende Arzt dies annimmt. Außerdem muss eine Gesprächssituation geschaffen werden, die es dem Patienten überhaupt erst ermöglicht, sich seiner neuen Lebenssituation mental und emotional anzunähern.
Für den Patienten kann es eine wichtige Hilfe für die Krankheitsbewältigung sein, wenn es möglich wird, die erlebten, belastenden Symptome und die zunächst wenig konkrete Krankheitsvorstellung in einem sinnvollen Modell in Zusammenhang zu bringen. Es sollte z.B. keineswegs vorausgesetzt werden, dass die Beziehung zwischen Zahnfleischbluten und einer Blutkrankheit dem Patienten oder seinen Angehörigen klar ist. Ärzte bewegen sich weitgehend in einem akademischen Umfeld, dem die Sensibilität für die Bedürfnisse nach Verstehen und für die Entwicklung individueller Krankheitsmodelle auf einfacherem Niveau fehlt. So beherrschen z.B. nach den Ergebnissen der PISA-Studien etwa 23% der jungen Erwachsenen das Lesen nur noch auf elementarem Niveau. Ärztliche Reaktionen auf ein völlig fehlendes Verständnis für Krankheitssymptome reichen von Nicht-wahrnehmen-Wollen bis zur völligen Hilflosigkeit und Arroganz. Ergänzend mögen nachfolgend einige Hinweise als mentale Skripte für Aufklärungsgespräche dienen.
Oft ist es hilfreich, vereinfachend zunächst von der Leukämie als Knochenmarkerkrankung zu sprechen und die 3 normalen Funktionen des Knochenmarks - Beitrag zur Sauerstoffversorgung durch Bildung der roten Blutkörperchen (Erythrozyten), Bildung von Abwehrzellen (weiße Blutkörperchen, Leukozyten) und Produktion von Blutplättchen (Thrombozyten) - zu erklären. Die mehrfache Nennung der Zellen mit deutschem und lateinischem Namen in den ersten Gesprächen mag dem Patienten schneller zu dem Erfolgserlebnis verhelfen, etwa die Frage "Wie sind heute meine Leukozyten?" zu formulieren. Wenn dann erklärt wird, dass durch Verdrängung die normalen Zellen nicht gebildet werden können, dann ist aufgrund der 3 Funktionen das Verständnis von 3 Gruppen von Beschwerden (Leistungsknick und Luftnot, schwere oder ungewöhnliche Infektionen, Blutungen) möglich. Eigene Beschwerden des Patienten sollen wenn möglich im Kontext dieser Erläuterung gedeutet werden. Wenn dies in der weiteren Erklärung noch 3 Gruppen von Maßnahmen (Transfusion von roten Blutkörperchen, Gabe von Antibiotika und Transfusion von Blutplättchen) nach sich zieht, so wird aus der mehrfachen Dreigliederung ein erstes Gerüst zum Verständnis der Zusammenhänge.
Durch die Identifikation mit dem Patienten berichten Ärzte starke Gefühle eigener Hilflosigkeit in dieser Situation [Rassin M 2006]. Gleichzeitig erleben 20-43% der Patienten mit malignen Erkrankungen in Deutschland den aufklärenden Arzt als unsensibel [Kleeberg UR 2005]. Wenn ein Patient zu weinen beginnt, schweigend erstarrt oder in Wut ausbricht, ist es wichtig, die Emotion zu erkennen, ggf. zu benennen und zu validieren ("Wenn man mit solchen Nachrichten konfrontiert wird, da muss man schon mal weinen"). Dies lässt Empathie erkennen und hilft, reaktiv aufkommende eigene Hektik oder (aus Abwehr resultierende) Barschheit zu vermeiden.
Abschließend hat es sich bewährt, dem Patienten ein Ablaufschema der geplanten Therapie in Kopie zur Verfügung zu stellen. Weiteres schriftliches Material ist als Informationsquelle für den Patienten wünschenswert; leider genügen die üblichen Patienteninformationsmaterialien der Therapiestudien eher juristischen Zwecken als einer einfühlenden Kenntnisvermittlung. Eine psychoonkologische Mitbetreuung und Selbsthilfegruppen können mittelfristig für einzelne Patienten eine wertvolle begleitende Stütze darstellen. Auch soziale Aspekte sollten durch entsprechendes Personal bei Bedarf vorab geklärt werden, um eine möglichst entspannte Therapiesituation zu ermöglichen. Dies schließt ggf. eine frühzeitige psychologische Mitbetreuung jüngerer Kinder von Leukämiepatienten ein, die durch Bedrohung und im Extremfall Verlust der Eltern stark traumatisiert werden können.
Die frühzeitige Einbeziehung von Angehörigen ist wichtig, bedarf aber der Zustimmung des Patienten. Krankheitsbearbeitung erfordert eine Vielzahl von Gesprächen, die nicht nur mit medizinischem Personal, sondern auch mit Angehörigen und Freunden geführt werden. Wenn die relevanten Partner schon im primären Aufklärungsgespräch integriert sind, können sie dieser Rolle besser gerecht werden. Manchmal ist eine konkrete Handlungszuweisung wertvoll ("Können Sie dafür sorgen, dass ..."), da sich die Angehörigen in dieser Situation als extrem hilflos erleben und es ihnen eine Entlastung verschafft, sich nützlich machen zu können. Wenn es zu einer massiven Verschlechterung des klinischen Zustandes kommt, sind Angehörige der Ansprechpartner des Arztes und müssen im Extremfall zum Betreuer bestimmt werden. In dieser Situation ist es hilfreich, wenn nicht zum ersten Mal ausgesprochen wird, welches Ausmaß der Bedrohung von der Erkrankung ausgeht. Die Einbindung der Angehörigen wird an einem universitären Zentrum zur Leukämietherapie durch die oft großen Entfernungen zum Wohnort erschwert.
Die Schwierigkeit der Entscheidung für eine kurative Therapie in den höchsten Altersgruppen ist in Kap. 8.11 erläutert. Entscheidet man sich für eine aplasieinduzierende Therapie, sollte in den ersten Tagen bereits thematisiert werden, welche Vorstellungen hinsichtlich einer Maximaltherapie bei Therapiekomplikationen beiderseits bestehen. Ergeben sich schwere Komplikationen (z.B. Pneumonie), so ist aus der Tatsache, dass diese zumindest partiell therapieinduziert sind (gewissermaßen iatrogen), nicht in jedem Fall abzuleiten, dass sie auch eine intensivmedizinische Maximalversorgung nach sich ziehen müssen. Ein Beispiel, wie dies formulierbar ist, findet sich im nachfolgenden Kasten. Jüngeren Patienten ist zu vermitteln, dass man im Fall von Komplikationen eine weitgehende Intensivtherapie anstreben würde, um die Gelegenheit für den (seltenen) Fall zu bieten, dass sie dies im Sinne einer Vorausverfügung ablehnen möchten. Aufklärungsmaterial sollte dem Patienten nur im Rahmen eines Gesprächs überreicht werden; dabei muss es möglich sein, auf konkrete Belange des Betroffenen einzugehen.
Auszüge aus klinikinternem Aufklärungsmaterial über eine Leukämietherapie, welches das mögliche Sterben thematisiert | Wie Sie dieser Aufklärung entnehmen konnten, beinhaltet die geplante Therapie trotz aller Bemühungen nach wie vor die Möglichkeit auch eines tödlichen Ausganges, sei es durch unvermeidbare Komplikationen oder durch ein Nichtansprechen oder einen Rückfall der Grunderkrankung. Sie sollten diese mögliche Situation auch mit Ihren Angehörigen besprechen und alle aus Ihrer Sicht notwendigen Schritte (finanzielle Regelungen, Vollmachten etc.) einleiten, um auch dieser Möglichkeit Rechnung zu tragen. Im Verlauf der Therapie können Situationen entstehen, in denen Sie (z.B. wegen Luftnot oder Nebenwirkungen von Medikamenten) nicht mehr ohne Weiteres für sich selbst entscheiden können. Dann ist es hilfreich, wenn nahe Angehörige uns beraten können, ob Sie in der jeweiligen Situation einer bestimmten Maßnahme eher zustimmen würden oder nicht. Auch hierüber sollten Sie mit ihrer Familie oder Ihren Freunden sprechen. Manche Menschen möchten bestimmte Formen der Intensivmedizin ("Schläuche und Apparate") für sich selbst ausschließen. Wenn Sie uns hierüber etwas sagen möchten, weitere Beratung wünschen oder eine entsprechende Patientenverfügung verfasst haben, sollten Sie mit einem unserer Ärzte darüber sprechen. Leider können bei Fortschreiten der Erkrankung auch Situationen eintreten, in denen der Einsatz von intensivmedizinischen Maßnahmen nicht mehr sinnvoll erscheint. Auch in dieser Situation werden wir uns um die bestmögliche Therapie zur Linderung Ihrer Beschwerden bemühen. |
8.7.3 Änderung des Therapiezieles - Einschränkung von Diagnostik und Therapie
In der Leukämietherapie kann das Pendel rasch von der noch kurativ intendierten Behandlung zur rein supportiven Therapie umschlagen. Dazwischen liegt u.U. die Intensivmedizin. Hier ist es von ärztlicher Seite oft schwierig, den mentalen und emotionalen Übergang angemessen einzuleiten und dann gegenüber dem Patienten und den Angehörigen zu vertreten. Hier bedarf es auch des interdisziplinären kollegialen Gesprächs, um klinische Situationen angemessen einzuschätzen oder einen Grundkonsens herbeizuführen. Wenn nach einer längeren Phase der aktiven Behandlung eine refraktäre Therapiesituation besteht, kann ein psychologisches Problem somit sowohl auf der Seite des Therapeuten als auch aufseiten des Patienten auftreten, mit möglicherweise konsekutiven Kommunikationsproblemen.
Patienten fühlen sich nicht selten vernachlässigt, wenn Blutwerte weniger oft kontrolliert oder Transfusionen seltener und eher nach klinischen Befunden durchgeführt werden.
Eine gute Einbeziehung der Hausärzte in die Therapieabläufe ist von Beginn an wichtig. Im frühen Krankheitsverlauf wird angesichts der Komplexität der Entscheidungen die Rolle des Hausarztes hin und wieder zu weit reduziert, etwa auf die Bestimmung von Laborparametern und deren Weitergabe an die behandelnde Klinik. Gerade bei langen Krankheitsverläufen und komplexen Vorgeschichten ist ein gewisser Widerstand (von Arzt und Patient) verständlich, wenn nun terminal die Last der Verantwortung wieder in die Hände des Hausarztes zurückgegeben wird. Bei Komplikationen, die in früheren Krankheitsphasen Grund für eine notfallmäßige Einweisung wären (Blutung, Fieber), sollen nun plötzlich Entscheidungsspielräume für eine ambulante, nur symptomorientierte Therapie wahrgenommen werden.
Um diese Änderung des Therapieziels verständlich zu vermitteln, bedarf es der klaren und expliziten Kommunikation mit Patienten, Angehörigen und den weiteren an der Betreuung Beteiligten. Eine Einschränkung von Diagnostik und Therapie geht nicht zu Lasten der Sicherheit, weil die Zielstellung eine andere geworden ist und weil eine Sicherheit im technischen Sinne nicht mehr gegeben ist. Ein Gefühl von Sicherheit kann für den Patienten entstehen, wenn Symptome ernst genommen werden, wenn Zuwendung erlebt wird. Für den Patienten ist es auch eine Entwicklung weg von einer Haltung, die durch die Aufforderung "Doktor, sagen Sie mir wie mein Hb heute ist, damit ich weiß, wie ich mich fühle" karikiert werden kann, hin zum "Wie geht es mir heute, und was kann der Arzt für mich tun?"
8.7.4 Zytostatische Therapie im palliativen Kontext?
Die Proliferationsrate der Leukämiezellen ist in Endstadien sehr unterschiedlich. Vor allem bei älteren Patienten und bei solchen nach inkomplettem Ansprechen kann ein eher hypoplastisches, myelodysplasieartiges Bild mit peripherer Aplasie im Vordergrund stehen, das eine zytostatische Behandlung nur selten erforderlich macht. Liegt dagegen eine rasche Proliferation vor, kann auch im palliativen Kontext eine zytostatische Therapie geringer Intensität erwogen werden. Tabelle 8.6 gibt eine Übersicht über Therapieoptionen (Dosisempfehlungen sind sehr variabel, und die Indikation ist individuell zu stellen).
Tab. 8.6: Rein zytoreduktive, palliative Therapieoptionen bei AML | Substanz | Dosis | Tioguanin (Thioguanin-GSK-Tabletten) | >80 mg/Tag für >4 Tage (evtl. Dauertherapie) | Cytarabin (verschiedene Hersteller) | Gabe s.c. oder i.v., beispielsweise 2-mal 20 mg/Tag für 7-10 Tage (oder höhere Dosierungen in größeren Abständen) | 6-Mercaptopurin p.o. (puri-nethol) | Etwa 2,5 mg/kgKG/Tag (in diesem Setting oft reversible Hepatotoxizität [Funke I 2000]) | Methotrexat (verschiedene Hersteller) | Beispielsweise 10-25 mg/m2KOF/Woche p.o. oder i.v. | Etoposid (verschiedene Hersteller) | Beispielsweise 50-100 mg/Tag p.o. | Mitoxantron (verschiedene Hersteller) | 5-20 mg wöchentlich i.v. | Idarubicin (Zavedos) | 15-30 mg/m2KOF/Tag für maximal 3 Tage oder 1-mal 25 mg/Woche absolut | Hydroxyharnstoff (Litalir, Syrea) | 2- bis 4-mal 500 mg (in randomisierter Studie dem Cytarabin unterlegen) | Melphalan (Alkeran) | 2 mg p.o. |
Positive Erfahrungen liegen für die tägliche Gabe von 2 mg Melphalan p.o. vor [Denzlinger C 2000]. Die jeweiligen weiteren Dosierungen erfolgen stark individualisiert, je nach Verlauf. In einer retrospektiven Auswertung [Funke I 2000] war Mitoxantron in Hinblick auf die Zytoreduktion am effektivsten, und Etoposid (>50 mg/Tag) war bei kleiner Fallzahl mit einer etwas erhöhten Mukositisrate assoziiert. Derzeit liegen keine harten Daten vor, die eine Lebensverlängerung in der rein palliativen Therapie der zweiten oder späteren Linie dokumentieren. Eine Kontrolle der Proliferation ist im Mittel für 1-2 Monate möglich. Ohne dass die Lebensqualität systematisch erfasst worden wäre, scheint zumindest ein dominant negativer Effekt dieser Therapien auf den Patienten wenig wahrscheinlich [Funke I 2000]. Für die Erstlinientherapie des gebrechlichen älteren Patienten ist eine geringe Verbesserung der Überlebenszeit durch s.c. Gabe von Cytosin-Arabinosid randomisiert belegt [Burnett AK 2007] und für orales Melphalan annehmbar [Denzlinger C 2000]. Bei raschem Anstieg der Leukozytenzahl bei einem Patienten mit ansonsten noch akzeptablem Performance-Status (minimaler Karnofsky-Performance-Status: >40) erscheinen diese Therapieoptionen auch in der palliativen Situation nach entsprechender Aufklärung vertretbar.
8.7.5 Woran sterben Leukämiepatienten?
Um den Bedarf an symptomorientierter Therapie besser einschätzen zu können, wären Statistiken über Todesursachen bzw. belastende Symptome am Lebensende hilfreich. Leider ist in der Praxis ein "leukämiebedingtes" von einem "infektionsbedingten" Symptom nur arbiträr zu unterscheiden, weshalb alle Statistiken hierzu nur mit Vorbehalt zu werten sind. In einer Analyse von 105 an Leukämie Verstorbenen beschreiben Stafelt [Stalfelt AM 2001, 2003] als unmittelbare Todesursache in rund der Hälfte der Fälle die Leukämie und in jeweils einem Zehntel der Fälle Pneumonie, Septikämie oder Hirnblutung. Nach eigenen (unveröffentlichten) Daten der AML-96-Studie liegt die Quote von Pneumonien als Haupttodesursache mit 24% höher. In der Analyse der letzten Behandlungswoche fällt bei Stafelt eine unerwartet hohe Inzidenz stärkerer Schmerzen auf (etwa 70%), deren Lokalisation meist unscharf ("Whole body") ist. Knochenschmerzen können auf eine subperiostale Ausbreitung der Leukämie im Finalstadium zurückzuführen sein. Etwa ein Viertel der Patienten beklagten Beschwerden im Mund, und 37% litten an stärkerer Übelkeit und Erbrechen. In einer größeren Übersichtsstatistik der European Group for Blood and Marrow Transplantation (EBMT) zu Todesursachen nach Stammzelltransplantation bei 5377 Verstorbenen [Gratwohl A 2005] wurde ungefähr folgende Verteilung festgestellt: Das Rezidiv war in 30% der Fälle die alleinige Ursache, während die therapiebezogene Mortalität mit 70% den Hauptanteil ausmachte (zu 25% als Graft-versus-Host-Erkrankung, zu 10% als Infektion und zu 35% als andere Ursachen klassifiziert).
8.7.6 Transfusionen
Bei nahezu allen Patienten besteht im Endstadium der Erkrankung eine Anämie. Solange der Patient dies wünscht, sind Transfusionen zur Aufrechterhaltung von Hämoglobinwerten in der Größenordnung von >8 g/dl (>5 mmol/l) in der Regel indiziert. Gelegentlich ist es organisatorisch am einfachsten, feste Transfusionstermine (z.B. wöchentlich Gabe von 2 Erythrozytenkonzentraten, nahezu unabhängig vom Hämoglobinwert) zu vereinbaren. Nur in seltenen Fällen ist die Entwicklung einer Eisenüberladung prognostisch relevant und die Erfassung des Verlaufs des Ferritinwertes indiziert. In der eigentlichen Terminalphase besteht eine Indikation für die Transfusion lediglich bei anämiebedingten Symptomen (Dyspnoe, Kreislaufstörungen, Schwindel, Ohrensausen, Kältegefühl, Tachykardie etc.), wenn deren Korrektur im Gesamtkontext noch wünschenswert erscheint. Routinemäßige Bestimmungen des Hämoglobinwertes erfolgen nicht mehr.
Die Indikation zur Gabe von Thrombozytenkonzentraten sollte in der Regel nicht ausschließlich an die Unterschreitung von Schwellenwerten gebunden werden, sondern diese Maßnahme sollte nur bei manifesten Blutungszeichen erfolgen. Bei längerfristigem Bedarf ist ohnehin in einem höheren Prozentsatz damit zu rechnen, dass die Effektivität der Substitution im Sinne eines messbaren Inkrements weitgehend verschwindet. Trotzdem kann bei Blutungen, z.B. im Nasen-Rachen-Raum, nach Gabe eines Thrombozytenkonzentrats eine symptomatische Besserung eintreten. Die durch die progrediente Grunderkrankung bedingte Immobilität sowie die Kreislaufdepression und eine geringere Verletzungsgefahr etwa "schützen" in gewisser Weise vor (in früheren Krankheitsphasen relevanten) Blutungsrisiken. Terminale Massenblutungen auch bei sehr niedrigen Thrombozytenzahlen treten bedeutend seltener auf als befürchtet.
Bei ambulanter Betreuung in der Terminalphase setzt die Abstimmung über erforderliche Infusionen von Thrombozytenkonzentraten eine gute Kommunikation zwischen Patient, Pflegenden, Angehörigen und der transfundierenden Klinik voraus, da häusliche Transfusionen in aller Regel nur durch spezialisierte Palliative-care-Teams übernommen werden.
Bei ausgeprägten terminalen Blutungen kann eine leukämieassoziierte disseminierte intravasale Gerinnung zugrunde liegen. Solche plasmatischen Gerinnungsstörungen sind im Kontext einer gleichzeitigen Thromboztopenie kaum für eine nennenswerte Zeit stabilisierbar. Eine Indikation z.B. zur Gabe von gerinnungsaktiven Plasmen muss sehr kritisch gesehen werden. In Einzelfällen kann es trotz der hohen Kosten sinnvoll sein, auch den Faktor-XIII-Spiegel zu messen und diesen Faktor ggf. zu substituieren - bisweilen kann man durch die Substitution noch eine mehrtägige Stabilisierung erreichen.
Zu einem kleinen Teil kann die Blutungsneigung bei Thrombozytopenie auch durch eine Hemmung der Fibrinolyse beeinflusst werden. Hierdurch wird sozusagen die mit den Restthrombozyten mögliche Hämostase optimiert, ohne den eigentlichen Defekt anzugehen. Studiendaten hierzu liegen jedoch lediglich für die Situation der Konsolidierungstherapie vor [Shpilberg O 1995]. Bei dominant oralen Blutungsproblemen kann auch die kombiniert orale und systemische Anwendung von Tranexamsäure (i.v. Lösung 1:1 verdünnt, erst spülen und dann schlucken) in Einzelfällen einen symptomatischen Effekt erzielen.
8.7.7 Antibiotische Prophylaxe und Therapie
In der Regel ist von einer massiven Infektionsgefahr auszugehen, die sich aus der Kombination von Neutropenie und Schleimhautschädigung ergibt. Sofern Schlucken möglich ist, wird oft eine prophylaktische Gabe von Fluorochinolonen praktiziert. Vergleichende Studien zu einer lediglich interventionellen Therapie sind allerdings nicht publiziert. Manifeste Infektionen im Sinne einer Pneumonie oder Sepsis sind im Kontext einer rasch progredienten, refraktären Erkrankung in der Regel nicht mehr beherrschbar, sodass sich eine Therapie auf symptomatische Maßnahmen beschränken darf. Die antibiotische Therapie hat bei Pneumonie in der Terminalphase entgegen dem vielfach praktizierten Vorgehen keinen symptomlindernden Effekt; wirksamer sind - je nach klinischer Situation - Antitussiva, inhalative Bronchodilatatoren, Morphin, Antipyretika etc. Bei langsamer Progredienz der Leukämie besteht durchaus eine gewisse Chance auf eine temporäre Stabilisierung, wenn sich die antimikrobielle Therapie an den üblichen Empfehlungen für das neutropenische Fieber orientiert. Hier bedarf es der sensiblen Kommunikation mit dem Patienten, inwieweit eine Therapie noch als sinnvoll erlebt wird oder ob eine Infektion als das unausweichliche Ende zu akzeptieren ist. Falls der Patient über die Umstände seines Sterbens informiert sein möchte, ist es sinnvoll, auch offen über das "Wie" des Sterbens zu kommunizieren. In jedem Fall sollte rechtzeitig vermittelt werden, dass in der Situation der refraktären Erkrankung oder der primär fehlenden Indikation zur antileukämischen Therapie aus Gründen des Alters und Ähnlichem auch eine Indikation zur komplexen Intensivtherapie in aller Regel nicht besteht. Dies schließt einen antimikrobiellen Therapieversuch, u.U. auch eine kurzzeitig überbrückende Katecholamingabe, nicht aus. Quälende Dyspnoe ist allerdings in der Palliation nahezu immer eine Indikation zum Einsatz von Morphin, u.U. auch zur palliativen Sedierung, jedoch nur in Ausnahmen zur Intubation. Im Kontext von Fieber darf der Hinweis nicht fehlen, dass bei fortgeschrittenen Leukämien auch gelegentlich ein paraneoplastisches Fieber ("Tumorfieber") als Ursache anzunehmen ist. Auch dies kann einen zytostatischen Therapieversuch "ex juvantibus" rechtfertigen. Ansonsten sind als Antipyretika Metamizol und Paracetamol indiziert; auf Acetylsalicylsäure und andere nichtsteroidale Antirheumatika sollte wegen der Thrombozytopenie selbstverständlich verzichtet werden. Das eher hypothetische Risiko einer zusätzlichen allergischen Agranulozytose durch Gabe von Metamizol fällt in diesem Kontext nicht ins Gewicht.
8.7.8 Mukositis
Für die schmerzhaften Mundschleimhautveränderungen im Endstadium der AML können verschiedene Faktoren ätiologisch relevant sein. Neben residuellen trophischen Störungen als Folge der vorausgegangenen Chemotherapien spielen sicher der Ausfall der zellulären Abwehr mit resultierenden infektiösen Komplikationen sowie möglicherweise auch infiltrative leukämische Veränderungen eine Rolle (ähnlich der bei AML M4/M5 initial häufig anzutreffenden Gingivahyperplasie). Bei allogen Transplantierten kommen zusätzlich orale Manifestationen der Graft-versus-Host-Erkrankung als Ursache infrage. Die Veränderungen können dazu führen, dass Prothesen nicht mehr passen und nicht mehr getragen werden, was die Nahrungsaufnahme zusätzlich beeinträchtigt.
Hinsichtlich der Mundhygiene hat in der Vergangenheit die dominante Sorge einer mechanisch induzierten Bakteriämie oder Blutung beim Zähneputzen zu Empfehlungen geführt, eine Reinigung mit Zahnbürsten und Ähnlichem nur mit äußerster Vorsicht und sozusagen als Ultima Ratio zuzulassen. Dies hat der Bildung von Plaques und Belägen Vorschub geleistet und möglicherweise mehr Schaden als Nutzen verursacht.
Ursächliche Therapien der trophischen und leukämischen Veränderungen im Mund stehen derzeit nicht zur Verfügung, sodass sich die Maßnahmen auf entzündungshemmende, antiseptische und antiinfektive sowie schmerzstillende Maßnahmen beschränken müssen (s. Tab. 8.7).
Tab. 8.7: Mundspüllösungen und Pflegemittel bei Mukositis (Auswahl) | Erwünschte Wirkung | Mundspüllösungen | Schmerzstillend | - Dynexan-Mundgel
- Diehl-Lösung (Maaloxan und Xylocain)
- Tepilta-Suspension
- Subcutin-N-Lösung (Benzocain)
- Xylocain viskös 2%
- Herviros
| Entzündungshemmend und antibakteriell | - Salbei- und Kamillentee
- Salvysat-Lösung**
- Hexoral-Lösung (Hexetidin)*
- Tantum-verde-Gurgellösung (Benzydamin-HCl)*
- Kamillosan-Konzentrat
- Dorithricin-Halstabletten
- Skinsept mucosa (Chlorhexidin)*
- Meridol (Aminfluorid, Zinnfluorid)
| Antimykotisch | - Candio-hermal-Suspension
- Ampho-moronal-Suspension und -Lutschtabletten
| Granulationsfördernd | - Bepanthen (Dexpanthenol), Lösung und Lutschtabletten
| Befeuchtend | - Saliva-medac-Spray
- Glandomed
- Zitronensaft**
- Olivenöl
- Butter
| * enthält Alkohol oder andere Inhaltsstoffe, die lokal brennend wirken können ** nach individueller Verträglichkeit verdünnen |
Verschiedene der genannten Lösungen wirken austrocknend (Kamille), andere reizend. In einer kleinen Studie war Meridol dem Skinsept mucosa tendenziell überlegen. Bei Lösungen, die Lokalanästhetika enthalten, muss die Anwendung mit dem Patienten genau besprochen werden. Eine zu ausgeprägte Betäubung wird von manchen Patienten als unangenehm empfunden bzw. birgt das Risiko, dass durch ein unbemerktes mechanisches Trauma weitere Läsionen gesetzt werden. Beim Verschlucken und Gurgeln mit diesen Lösungen kann durch Betäubung im Rachen und Kehlkopfbereich auch das Aspirationsrisiko steigen. Besonders sinnvoll ist die lokale Anwendung bei umschriebenen schmerzhaften Läsionen mittels Wattetupfer (z.B. unverdünnte Herviros-Lösung, alle 2-3 Stunden). Bei Verdacht auf eine virale Genese kann auch Aciclovir symptomatisch wirksam sein. Patienten empfinden die Anwendung von kleinen Eiswürfeln aus Cola, Fruchtsaft oder Tee oft als angenehm. Hierüber kann auch eine gewisse Flüssigkeitszufuhr gewährleistet werden, wenn das Schlucken größerer Flüssigkeitsmengen Probleme bereitet.
8.7.9 Graft-versus-Host-(GvH-)Krankheit als Todesursache
Diese Komplikation der allogenen Stammzelltransplantion (s. Kap. 8.3) wird in eine akute, früh nach der Stammzelltransplantion auftretende und eine chronische Verlaufsform eingeteilt. Die vitale Bedrohung ist in beiden Fällen zum einen durch die direkte Organschädigung, zum anderen durch die Infektionsrisiken der anhaltend erforderlichen ausgeprägten Immunsuppression bedingt. Typische, relevante Organmanifestationen sind v.a. Diarrhöen, ein cholestatischer Ikterus, lichenoide (im Extremfall ulzeröse) und sklerodermiforme Haut und Schleimhautveränderungen sowie restriktive Einschränkungen der Lungenfunktion. Da die GvH-Krankheit mit einem unterdurchschnittlichen Risiko eines Leukämierezidives assoziiert ist, geht die Indikationsstellung zur immunsuppressiven und ggf. antiinfektiven Prophylaxe und Therapie ärztlicherseits sehr weit. Umgekehrt ist es auch bei ausgeprägter GvH-Erkrankung im Einzelfall sehr schwer, den Punkt zu definieren, ab dem ein Überleben völlig aussichtslos ist, oder den Zeitpunkt des wahrscheinlichen Sterbens abzuschätzen.
Eine spezielle palliativmedizinische Problematik stellt die (leukämische) Rezidivsituation bei noch vorhandener Alloreaktivität und GvH-Krankheit dar. Bei der ansonsten gebotenen Reduktion aller nicht dringend erforderlichen Medikationen sollte auf die Immunsuppressiva in diesem Kontext nicht vorschnell verzichtet werden, da eine akute Exazerbation der GvH-Erkrankung u.U. zu einer beschleunigten vitalen Bedrohung und einer symptomatischen Verschlechterung führen kann.
Symptomatisch sind die Hautveränderungen der GvH-Erkrankung durch fettende, kortikoidhaltige Salben zu behandeln. Bei offenen Stellen orientiert man sich an den Empfehlungen zur Behandlung von Verbrennungsopfern (gute Erfahrungen bestehen für topische Sulfadiazin-Silber-Creme - Flammacine). Für Schleimhautveränderungen gelten die für die Mukositis ausgesprochenen Empfehlungen. Auch auf der Schleimhaut kann die topische Anwendung von Kortikoiden (z.B. 0,05%ige Fluocinonid-Salbe) versucht werden. Durchfälle sollten symptomatisch mit Loperamid therapiert werden. Wenn Patienten die Kapseln nicht mehr schlucken können, ist die Tropfenform manchmal noch verwendbar. In fortgeschrittenen Krankheitsphasen kann auch eine quälende Diarrhöe Veranlassung sein, eine parenterale Opiattherapie (mit entsprechender antiemetischer Prophylaxe) zu beginnen (z.B. 3-mal 1 Ampulle Metoclopramid und 1 mg Morphin pro Stunde über Perfusor, evtl. initial Bolusgabe von 5 mg; weitere Dosismodifikation individuell nach Grad des Ansprechens und Ausmaß der Sedierung). Eine ausführliche Darstellung der symptomatisch möglichen Maßnahmen und sinnvoller Lokaltherapeutika findet sich bei Couriel [Couriel D 2006] oder im Internet unter www.gvhd.de.
Eine Dyspnoe infolge einer langwierigen chronischen GvH-Erkrankung ist oft Endresultat eines komplexen Geschehens, was sowohl Residualzustände von Infektionen (durch Zytomegalie- oder Herpes-simplex-Virus, bakterielle Pneumonien, Pneumocystis-jiroveci-Pneumonie, Aspergillose) und toxische Schädigungen durch Therapien (Busulfan, Ganzkörperbestrahlungen) als auch eine primäre immunologische Schädigung der Lungen durch die GvH-Erkrankung mit einem BOOP-ähnlichen Bild (BOOP: Bronchiolitis obliterans organizing pneumonia) einschließt. Die palliative Therapie umfasst daher antiinfektive, bronchodilatative und immunsuppressive Komponenten (je nachdem, was ätiologisch für die aktuelle Exazerbation im Vordergrund steht) sowie die symptomatische Gabe von Sauerstoff, auch zu Hause. Bei stabiler Gesamtkonstellation mit ausgeprägter respiratorischer Insuffizienz ist in Einzelfällen eine Lungentransplantation durchgeführt worden. Wo eine medikamentöse Beeinflussung des pathophysiologischen Geschehens nicht mehr zu erhoffen ist, gelten allgemeine Grundsätze der palliativen Therapie der respiratorischen Insuffizienz, d.h. man wird versuchen, durch niedrigdosierte Morphingabe sowie ggf. leichte Sedierung die Atemnot erträglicher zu machen. Als aktuelle Empfehlung [Navigante AH 2006] mag die Gabe von 2,5 mg Morphin s.c oder i.v. alle 4 Stunden (oder 25%ige Steigerung der Dosis bei bestehender Morphinanalgesie), evtl. in Kombination mit 5 mg Midazolam alle 4 Stunden, gelten.
8.7.10 Schmerzen und Schmerztherapie
Im Allgemeinen gilt die Leukämie im Vergleich zu soliden Tumoren als Erkrankung, die weniger mit Schmerzen assoziiert ist. Mögliche Schmerzursachen und Lokalisationen sind in Tabelle 8.8 dargestellt.
Tab. 8.8: Schmerzursachen bei Patienten mit akuter Leukämie | Art der Schmerzen bzw. Schmerzursachen | Bei Diagnosestellung | Während der Therapie | Bei refraktärer Erkrankung | Knochenschmerzen durch Proliferation (Wirbelsäule, Becken und proximale Röhrenknochen, gelegentlich Rippen) | + | (+ bei G-CSF-Gabe) | ++ | Infektionsassoziierte Schmerzen (v.a. pleuritisch und perianal) | ++ | + | ++ | Orale und pharyngeale Schmerzen (Gingivahyperplasie und -ulzerationen, Soor) | + | - | + | Neutropenische Mukositis bzw. Kolitis | - | ++ | - | Phlebitis, Thrombosen, Paravasate | - | ++ | + | Chlorome | - | - | ++ | Blutungen | (+) | (+) | (+) | Ulzeröse oder fibrosierte Läsionen aufgrund einer GvH-Erkrankung | - | (+) | - | G-CSF Granulozyte-colony stimulating factor, Granulozyten-Kolonie-stimulierender Faktor; GvH-Erkrankung Graft-versus-Host-Erkrankung (+) selten vorhanden; + vorhanden; ++ häufig vorhanden; - nicht vorhanden |
Eine allgemeine palliativmedizinische Erfahrung besteht darin, dass ein hoher Anteil sterbender Patienten (solange eine verbale Kommunikation möglich ist) unabhängig von der Grundkrankheit präterminal starke Schmerzen am ganzen Körper angibt ("Es tut überall so weh! Alles tut so weh! Es tut so weh!"). Im Fall einer progredienten Leukämie können dies natürlich Knochenschmerzen sein. Man sollte jedoch auch daran denken, dass ein nicht somatisch zu fassenden Schmerz diesen Äußerungen zugrunde liegen kann, der eher dem "Abschiedsschmerz" ("Es tut mir so weh, dass ich sterben muss") zuzuordnen wäre.
Zum Zeitpunkt der Erstdiagnosestellung ist eine analgetische Therapie meist nur kurzzeitig notwendig, da diese Schmerzsyndrome auf die antileukämische bzw. antiinfektiöse Therapie rasch ansprechen. Dabei gelten, wie auch im Gesamtverlauf, die Grundprinzipien der Tumorschmerztherapie (Empfehlungen zur Therapie von Tumorschmerzen der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft aus dem Jahre 2007, frei zugänglich unter www.akdae.de), allerdings mit 2 relevanten Ausnahmen:
- Während des gesamten Krankheitsverlaufs müssen Analgetika, die die Thrombozytenfunktion beeinflussen, vermieden werden.
- Es liegt nahe, bei neutropenischer Kolitis Opiate nur mit Vorsicht einzusetzen, da die resultierende Passageverlangsamung zur vermehrten Translokation von Bakterien beitragen könnte. Hier ist Metamizol in maximaler Dosierung vorrangig zu verabreichen.
Bei Schmerzen durch Chlorome sollte auch in fortgeschrittenen Stadien die Möglichkeit einer Strahlentherapie kritisch geprüft werden, da hierdurch oft eine symptomatische Linderung erzielbar ist.
Dame Cicely Saunders hat durch die Prägung des Begriffs "Total pain" den Blick dafür geschärft, dass Schmerz mehr als ein körperliches Symptom ist. Für das Ausmaß des Leidens sind psychischer Schmerz (Ängste, Verzweiflung, Depression), sozialer Schmerz (Isolation, Trennung, Abgeschobensein, finanzielle Sorgen) und nicht zuletzt spiritueller Schmerz (Sinnfragen) genauso maßgeblich und können durch entsprechende Zuwendung sowie psychosoziale und ggf. seelsorgerische Begleitung gelindert werden.
8.7.11 Gespräche am Lebensende
Die bereits angeführten Grundsätze für eine sensible Kommunikation gelten natürlich nicht nur während der initialen Diagnosevermittlung, sondern bei jeder Vermittlung kritischer Inhalte, jeder Änderung des Therapieziels und in Bezug auf die Angehörigen insbesondere auch zum Zeitpunkt des Todes des Patienten. Untersuchungen aus Australien [McGrath P 2002] und Japan [Shirai Y 2005] zeigen, dass gerade in der Hämatologie in mehreren Punkten Defizite bestehen. Vielfach bleibt es aus, dass kritische Informationen vermittelt werden: Die entscheidende Wendung, dass eine Heilung nicht (mehr) möglich ist, muss von ärztlicher Seite zunächst explizit realisiert werden. Hierzu sind bisweilen Entscheidungsräume und interdisziplinäre Gespräche notwendig, zumal wenn langfristige Therapien in kurativer Intention vorausgegangen sind und ein mögliches Scheitern nicht unmittelbar zur Debatte gestanden hat. Ein solches abgestuftes Vorgehen hat auch den Sinn, den Patienten im Rahmen eines vertretbaren Zeitfensters an die gänzlich neue palliative Situation heranzuführen. Die Umstimmung des Behandlungsteams und des Patienten ist u.U. kein trivialer, rein auf medizinischen Fakten beruhender Vorgang, sondern auch auf ärztlicher Seite emotional beladen. Das "Wie" und der Zeitpunkt der Kommunikation sollten daher gut abgewogen werden.
In der Betreuung von Leukämiepatienten beurteilen japanische Schwestern die Kompetenz ihrer Ärzte im Umgang mit Distress und Angst deutlich schlechter als beim Management aller körperlichen Symptome. Retrospektiv wird von Angehörigen die Abfolge immer weiterer Therapien in einer Weise reflektiert, die Wahlmöglichkeiten (für eine rein palliative Betreuung) für den Patienten nicht erkennen ließ, was McGrath [McGrath P 2002] als "technologischen Imperativ" der Therapie beschreiben.
Ein besonderer Aspekt in der psychologischen Betreuung der Patienten und ihrer Familien ergibt sich nach allogen-verwandter Transplantation. Im Fall schwerwiegender Komplikation oder gar des Todes des Patienten entstehen nicht selten Schuldgefühle des verwandten Spenders ("Meine Stammzellen waren nicht gut genug. Ich bin Schuld daran, dass er stirbt!"). Auch belanglose Äußerungen können das Gewicht von Schuldzuweisungen erhalten. Diese Gefühle sollten behutsam detektiert und angesprochen werden. Allein ein Ventil dafür zu schaffen, scheint wesentlich. Beim Spender besteht ein Risiko für pathologische Trauerreaktionen, wenn derlei Emotionen unkanalisiert bleiben [Christopher KA 2000]. Andererseits wird auch beschrieben, dass Familien durch den Tod eines Angehörigen in dieser Situation enger zusammenrücken [Switzer GE 1998] und gerade der Spender besondere Zuwendung erfahren kann.
Das Ausmaß der psychischen Belastung für Angehörige im Todesfall wird oft nur unzureichend wahrgenommen. Man kann davon ausgehen, dass bis zu einem Drittel der Angehörigen in ihrer Trauer Kriterien für eine posttraumatische Belastungsstörung erfüllen. Im Umfeld des Sterbens auf einer Intensivstation (auch bei anderen Erkrankungen) konnte in prospektiven und randomisierten Studien [Lautrette A 2006] [Lautrette A 2007] gezeigt werden, dass die Beachtung relativ simpler Empfehlungen die psychische Belastung der Angehörigen reduziert. Kernelemente sind Wertschätzung und Anerkennung für deren Äußerungen und Gefühle sowie die Fähigkeit zuzuhören. Informationsvermittlung über pathophysiologische Vorgänge steht nicht im Vordergrund. Die Kunst besteht vielmehr darin, die Angehörigen zum Fragen und zum Sprechen zu bringen. Wichtig sind Gesprächsinhalte und Fragen, die den Verstorbenen als Person und nicht "nur" als Patient (Träger einer Krankheit) erlebbar machen und in Erinnerung rufen.
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Bei ONKODIN publiziert in Kooperation mit "Deutscher Ärzte-Verlag" (Publikation als Buch)
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und in Kooperation mit "Studien-Allianz Leukämie" |
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Aktuelle Berichte vom 58th
ASH Annual Meeting 2016,
San Diego, Kalifornien, USA [ Mehr]
2016 ASCO Annual Meeting - aktuelle Berichte. Dieser Service wird gefördert durch:
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