8.12 Therapiebesonderheiten bei Kindern und Jugendlichen
8.12.1 Epidemiologie und Pathogenese
Häufigkeit: Die akute myeloische Leukämie (AML) ist bei Kindern und Jugendlichen mit einer Inzidenz von 0,7 Erkrankungen/100 000 Einwohner unter 15 Jahren deutlich seltener als die akute lymphoblastische Leukämie (ALL) im Kindesalter und seltener als bei Erwachsenen. Das Erkrankungsalter liegt bei der AML im Kindesalter im Median höher als bei der ALL (7,9 vs. 4,7 Jahre). Die Altersverteilung zeigt einen geringen Häufigkeitsgipfel in den ersten 2 Lebensjahren und anschließend einen leichten Anstieg der Inzidenz vom 13. Lebensjahr an. Das Verhältnis von Jungen zu Mädchen beträgt 1,1:1.
Aufgrund der Seltenheit der AML im Kindesalter besteht die zwingende Notwendigkeit der Kooperation zwischen den behandelnden Einrichtungen. Seit 1978 wird in Deutschland eine einheitliche Therapie für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren mit AML im Rahmen aufeinander folgender Therapieoptimierungsstudien eingesetzt.
Die Therapie wird risikoadaptiert mit geprüften Polychemotherapieelementen durchgeführt. Sie hat das Ziel, durch frühe Therapieintensivierung einer Resistenzentwicklung vorzubeugen. Im Rahmen der aufeinander aufbauenden AML-Berlin-Frankfurt-Münster-(BFM-)Studien konnten die 5-Jahres-Überlebensraten von 42% auf inzwischen 60% angehoben werden [Creutzig U 2005b] [Creutzig U 2006].
Veränderung der Überlebensraten über die Zeit (Trend)
Die Überlebensraten von Kindern und Jugendlichen mit AML unter 20 Jahren haben sich in den vergangenen 30 Jahren deutlich verbessert. Populationsbasierte 5-Jahres-Überlebensraten sind von 23% (1975-1984) auf 41% (1985-1994) angestiegen [National Cancer Institute]. Heute liegen die 5-Jahres-Überlebensraten bei Kindern und Jugendlichen, die in klinischen Studien behandelt werden, im Bereich von 45-60% [Kaspers GJ 2005] [Lie SO 2003] [Stevens RF 1998]. Ergebnisse der AML-BFM-Studien (bei unter 18-jährigen Patienten) zeigen eine Verbesserung des 5-Jahres-Überlebens von 49% (Studie AML-BFM 87; Patientenaufnahme: 1987-1992) auf 60% (1993-1998) [Creutzig U 2001b]. Diese Verbesserung der Überlebensraten ist überwiegend auf die Intensivierung der Chemotherapie und auf Fortschritte in der supportiven Behandlung zurückzuführen.
Pathogenese: Genetische Dispositionen und assoziierte Defekte
Down-Syndrom-AML: Eine Besonderheit bei einigen Neugeborenen mit Down-Syndrom (Trisomie 21) ist das Auftreten einer transienten Myeloproliferation (transitorisches myeloproliferatives Syndrom, TMS). Im Blut und im Knochenmark werden Blasten gefunden, die morphologisch und immunologisch nicht von myeloischen Blasten einer Leukämie zu unterscheiden sind (s. Abb. 8.16.) Der entscheidende Unterschied zu den kongenitalen Leukämien liegt in dem spontanen Verschwinden der Blasten innerhalb von mehreren Wochen ohne spezifische Chemotherapie [Creutzig U 1998]. Weiterhin haben Kinder mit Down-Syndrom ein 14- bis 20-fach erhöhtes Risiko, an einer Leukämie zu erkranken [Creutzig U 1996] [Hasle H 2001]. Im Alter unter 4 Jahren ist dieses Risiko im Vergleich zu Kindern ohne Down-Syndrom etwa 100-mal höher [Creutzig U 1996]. Der vorherrschende Subtyp bei diesen Patienten ist die akute Megakaryoblastenleukämie (AML FAB-M7). Zusammen mit dem oben erwähnten TMS bei Neugeborenen deuten diese Besonderheiten auf einen Zusammenhang zwischen dem zusätzlichen Chromosom 21 und der Entwicklung einer Leukämie hin. Inzwischen ist bekannt, dass fast alle Patienten mit Down-Syndrom und TMS oder AML FAB-M7 Mutationen des Transkriptionsfaktors GATA1 aufweisen und dass diese Mutationen zur Bildung eines trunkierten Proteins führen [Wechsler J 2002]. Da diese Mutation bisher nur bei der typischen Down-Syndrom-AML und dem TMS nachweisbar war, wird angenommen, dass dieses Onkoprotein selektiv auf embryonale oder fetale Vorläuferzellen wirkt [Li Z 2005].
Abb. 8.16: Blasten bei einem Neugeborenen mit transitorischem myeloproliferativen Syndrom bei Down-Syndrom
Neben dem Down-Syndrom haben auch Kinder mit anderen bestimmten angeborenen Syndromen und genetischen Erkrankungen ein deutlich gesteigertes Risiko, eine AML zu entwickeln [Creutzig U 2005c]. Dazu gehören Patienten mit kongenitalen Syndromen, die mit einer gesteigerten Chromosombrüchigkeit oder einem gestörtem DNA-Repair-Mechanismus verbunden sind (z.B. Fanconi-Anämie und Bloom-Syndrom) [Li FP 1993], oder auch Kinder mit kongenitalen Erkrankungen der Myelopoese wie dem Kostmann-Syndrom und der Diamond-Blackfan-Anämie [Rosen RB 1979] [Wasser JS 1978].
8.12.2 Prognosefaktoren
Mit Hilfe von prognostischen Faktoren wird versucht, das individuelle Risiko für ein Therapieversagen möglichst bereits zum Diagnosezeitpunkt - oder sobald wie möglich danach - zu ermitteln. Als gesicherte günstige prognostische Faktoren bei der AML in allen Altersgruppen gelten bestimmte Karyotypen wie t(8;21), t(15;17) und inv(16). Diese korrelieren mit den FAB-Subtypen AML M1/2 mit Auer-Stäbchen, AML M3 und AML M4Eo. AML mit komplexen Karyotypen, FLT3-Tandemduplikationen, Monosomie 7 oder Hyperleukozytose (>100 000 Leukozyten/µl) gehen dagegen eher mit einer ungünstigen Prognose einher [Dastugue N 1995]. Diese Merkmale korrelieren teilweise mit den als ungünstig angesehenen morphologischen Subtypen M0, M4, M6 und M7 [Buckley JD 1989] [Creutzig U 1997]. Die meisten prognostischen Faktoren sind nicht unabhängig, und ihre Bedeutung kann sich mit der Behandlungsintensität ändern.
Seitdem die unabhängige prognostische Bedeutung der FLT3-Tandemduplikation bekannt ist [Zwaan CM 2003], wird auch dieser Faktor bei der Risikostratifizierung in den AML-BFM-Studien berücksichtigt (s. Tab. 8.12).
Tab. 8.12: Prognostische Faktoren bei der Behandlung der AML [Creutzig U 1999] | Faktor | Gute Prognose | Schlechte Prognose | International anerkannt | | - | Zytogenetik | | - del5
- del-7
- Komplexe Aberrationen
| In Deutschland übliche Einteilung | Standardrisiko*: - AML M1/M2 mit Auer-Stäbchen**
- AML M3**
- AML M4Eo**
| Hochrisiko: andere | * zusätzliche Bedingungen für Standardrisiko (Ausnahmen: AML M3 und AML bei Down-Syndrom): Blastenreduktion an Tag 15 von <5%; FLT3-Tandemduplikation negativ (erweiterte Definition seit 2004) ** oder günstige Zytogenetik wie international üblich |
8.12.3 Symptomatik
Die meisten Symptome der AML im Kindesalter entsprechen denen bei Erwachsenen. Häufiger wird eine Beteiligung des zentralen Nervensystems (ZNS) gesehen, definiert durch mehr als 5 leukämische Blasten pro Mikroliter Liquor bzw. durch klinische oder radiologische Zeichen des intrazerebralen Befalls. Der ZNS-Befall kommt bei 5-10% aller Kinder mit AML vor. Gelegentlich treten auch extramedulläre Manifestationen der AML als Tumoren im ZNS auf. Symptome des ZNS-Befalls sind Kopfschmerzen, Nervenlähmungen, fokale neurologische Defizite und Krampfanfälle.
Etwa 20-30% aller Kinder mit AML weisen extramedulläre Manifestationen der Leukämie auf. Dabei sind neben dem ZNS insbesondere Infiltrate in Haut und Schleimhäuten häufig, gefolgt von Infiltrationen in Weichteilen, Orbita oder anderen Organen. Abbildung 8.17 zeigt Hautinfiltrate am Kopf eines Kleinkindes mit akuter monoblastärer Leukämie.
Abb. 8.17: Hautinfiltrationen am Kopf eines Kleinkindes mit akuter monoblastärer Leukämie
Ein extramedullärer Befall bei manifester Knochenmarkbeteiligung tritt gehäuft bei monoblastären Leukämien auf. Während bei den prognostisch günstigeren Formen - wie der AML M2 mit Auer-Stäbchen bzw. der AML mit t(8;21) - der extramedulläre Befall keinen prognostisch ungünstigen Faktor darstellt, konnte besonders für die myelomonoblastären oder monoblastären Leukämien eine extramedulläre Infiltration mit leukämischen Blasten als prognostisch ungünstiger Faktor identifiziert werden [Creutzig U 2001a].
Komplikationen: Kinder sind anfälliger für eine anthrazyklinbedingte Kardiomyopathie als Erwachsene [Grenier MA 1998] [Kremer LC 2002], weil das kardiale Wachstum bei ihnen nach anthrazyklinbedingter Myozytenschädigung nur inadäquat erfolgen kann. Es resultiert eine Verschlechterung der linksventrikulären Kontraktion mit Erhöhung des Afterloads und Entwicklung einer kombinierten dilatierten und restriktiven Kardiomyopathie [Adams MJ 2005] [Giantris A 1998]. Dagegen wird bei Erwachsenen typischerweise nur eine Dilatation gefunden [Adams MJ 2005] [Von Hoff DD 1979]. Aus diesem Grund ist bei Kindern mit AML sowohl auf die Limitierung der kumulativen Anthrazyklindosis als auch auf die Vermeidung von Spitzenspiegeln mit Hilfe der Gabe von Langzeitinfusionen oder der Wahl eines liposomalem Anthrazyklins zu achten.
8.12.4 Diagnostik
Spezielle initiale Leukämiediagnostik
Die Diagnose der AML wird durch eine Knochenmarkzytologie in Verbindung mit Immunologie und Zytogenetik gesichert. Ausnahmen bilden hier Patienten mit einer Hyperleukozytose (>100 000 Leukozyten/µl), bei denen eine primäre Knochenmarkaspiration bzw. die dazu erforderliche Narkose ein hohes Risiko darstellt. Bei Patienten mit dem Verdacht auf eine Myelofibrose kann zusätzlich eine Knochenmarkbiopsie erforderlich sein. Bei extramedullären Manifestationen der Krankheit, die ohne eine Knochenmarkbeteiligung einhergehen, kann die bioptische Sicherung mit einer entsprechenden Immunhistochemie die Diagnose bestätigen.
Im Rahmen der Primärdiagnostik sind zur genauen Subklassifikation Untersuchungen zu Zytologie und Zytochemie sowie Immunphänotypisierung, Zytogenetik und Molekulargenetik notwendig.
Zytologie
Die Diagnose wird durch die Knochenmarkpunktion in Verbindung mit dem Blutbild gestellt. Definitionsgemäß muss der Anteil der Blasten im Knochenmark an den kernhaltigen Zellen zur Diagnosestellung einer AML >20% betragen.
Zytochemie
Die Zytochemie hat durch die Einführung der immunologischen Nachweismethoden an Bedeutung verloren, ist aber in zweifelhaften Fällen bei der differenzialdiagnostischen Abgrenzung gegenüber der ALL hilfreich. Bei einem Anteil von >3% myeloperoxidasepositiver Blasten liegt eine AML vor. Eine positive Esterasereaktion ist typisch für eine monoblastäre Leukämie.
Immunphänotypisierung
Der Immunphänotyp ist für die Abgrenzung verschiedener ALL- bzw. AML-Subtypen relevant [Bene MC 1995] [Ludwig WD 1993]. Die Immunphänotypisierung ist für die Diagnosestellung eines M0- und eines M7-Subtyps essenziell.
Zytogenetik und Molekulargenetik
Der zytogenetische Befund ist für die Subklassifikation relevant: Der Nachweis der Translokation t(8;21) bzw. t(15;17) oder der Inversion 16 gilt als prognostisch günstiger Faktor, während die Monosomie 7 oder komplexe Karyotypen eher auf eine schlechte Prognose hinweisen.
Die molekulargenetischen Äquivalente dieser Chromosomenveränderungen sind für die t(8;21) das AML1/ETO und für die inv(16) das MYH 11/CBFβ. Bei den 11q23-Aberrationen, die bei verschiedenen Subtypen der AML, aber auch bei der ALL vorkommen, ist das MLL-Gen beteiligt. Beim AML-Subtyp M3 ist die Persistenz oder das Wiederauftreten des RARα-Gens mit einem Rezidiv assoziiert [Biondi A 1992].
Mit der Fluoreszenz-In-situ-Hybridisierung (FISH) lassen sich die meisten relevanten Translokationen und numerischen Abberationen der AML erkennen.
Klinische Diagnostik
Körperliche Untersuchung
Die körperliche Untersuchung erlaubt eine Aussage zur Dissemination der Erkrankung und eine Einschätzung der akuten Gefährdung des Patienten. Hierbei sollte die Erhebung folgender Befunde besonders beachtet werden:
- Blutungszeichen (Haut, Schleimhaut, evtl. zusätzlich Retina)
- Organgrößen (Leber, Milz, evtl. Nieren und Hoden)
- pulmonaler Auskultationsbefund (Obstruktion)
- Lymphknoten- und Hautinfiltrate
- neurologischer Status (Hirnnerven)
- Befund von Knochen und Gelenken (Schwellungen, Bewegungseinschränkungen)
Apparative Untersuchungen
Die initiale Diagnostik orientiert sich wie bei Erwachsenen am klinischen Befund und am Zustand des Patienten. Einzelne Untersuchungen können im Einzelfall, z.B. bei sehr kleinen Kindern oder initialer Blutungsgefahr, entfallen. Die Kombination der Ergebnisse sollte eine eindeutige Aussage über die Manifestationsorte der Leukämie erlauben, zugleich aber auch prätherapeutisch Organfunktionen dokumentieren, die hinsichtlich der möglichen Toxizität der nachfolgenden Therapie besonders relevant sein können, wie z.B. Funktionen von Herz, Gehirn und Nieren [Schrappe M 2006].
8.12.5 Therapie
Rationale
Bei Kindern und Jugendlichen ist eine intensive Polychemotherapie mit mehreren Zytostatika Standard. Sie besteht aus einer intensiven Induktionstherapie, anschließender Konsolidierung und Intensivierung (mit ähnlichen Therapieelementen wie bei Erwachsenen) über einen Zeitraum von 4-6 Monaten. Die Durchführung einer ZNS-Bestrahlung nach Erreichen der Remission ist umstritten. Ebenso sind Notwendigkeit und Dauer der Erhaltungstherapie unklar. Die Indikation zur allogenen HLA-identischen Stammzelltransplantation in erster Remission wird international nicht mehr generell, sondern nur noch bei Risikopatienten gestellt. In Deutschland werden Kinder mit AML nicht mehr in erster Remission (weder allogen noch autolog) transplantiert.
Chemotherapie
Induktionstherapie
Ziele sind die möglichst weitgehende Vernichtung aller Leukämiezellen und die Wiederherstellung der normalen Hämatopoese. Dies kann nur durch eine intensive Zytostatikabehandlung mit mehreren Substanzen erreicht werden, die zur lang anhaltenden Knochenmarkaplasie führt. Die Induktion (erster Block) der AML-BFM-Studie besteht aus Cytosin-Arabinosid (ARA-C) in Kombination mit einem Anthrazyklin und Etoposid. Die Einführung der Induktion mit ADE (ARA-C, Daunorubicin, Etoposid) in der Studie AML-BFM 83 ergab eine signifikante Verringerung der Rezidivraten im Vergleich zur Vorgängerstudie. Inzwischen wird anstelle des Daunorubicins das Idarubicin oder liposomal formuliertes Daunorubicin eingesetzt. Der zweite Induktionsblock bei Hochrisikopatienten besteht heute aus hochdosiertem ARA-C und Mitoxantron.
Ein Sonderfall ist der FAB-Typ M3. Hier ist die Kombination von Chemotherapie und All-trans-Retinolsäure (All-trans retinoic acid, ATRA) notwendig.
Postremissionschemotherapie
Die Remission wird bei den meisten Patienten nach der zweiten Induktion erreicht. Es ist üblich, die Therapie auch bei nicht erreichten Remissionskriterien so bald wie möglich fortzusetzen. Die weiteren 2-3 intensiven Therapieblöcke sind von ähnlicher antileukämischer Wirkung wie die Induktionsblöcke; überwiegend werden die gleichen Zytostatika eingesetzt oder hoch- oder mittelhochdosiertes ARA-C in Kombination mit Idarubicin, Mitoxantron oder Etoposid.
Eine Intensivierung mit einem oder mehreren Blöcken mit hochdosiertem ARA-C zur Überwindung der Zytostatikaresistenz ist bei fast allen Protokollen üblich. Die Erhaltungstherapie der AML-BFM-2004-Studie wird für ein Jahr mit den Medikamenten 6-Thioguanin (täglich) und ARA-C (s.c.) - alle 4 Wochen für jeweils 4 Tage - durchgeführt.
Therapie des subklinischen und manifesten leukämischen Befalls des Zentralnervensystems
Eine Behandlung des Zentralnervensystems (ZNS) bei manifestem Befall oder präventiv besteht generell aus der intrathekalen Gabe von ARA-C, Methotrexat oder einer Kombination dieser Substanzen mit Hydrokortison in Verbindung mit einer ZNS-Bestrahlung. Die Durchführung einer ZNS-Bestrahlung bei manifestem ZNS-Befall wird generell akzeptiert, während die präventive Behandlung umstritten ist. Die Ergebnisse der Studie AML-BFM 87 zeigten, dass Patienten, die eine präventive ZNS-Bestrahlung erhalten hatten, nicht nur weniger Rezidive im ZNS, sondern auch eine Verringerung der systemischen Rezidive aufwiesen [Creutzig U 1993]. Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass residuale Leukämiezellen nach intensiver systemischer Chemotherapie im ZNS zurückbleiben, später durch Verbreitung über den Blutweg das Knochenmark erreichen und dort zum Rezidiv führen.
In der AML-BFM-2004-Studie wird eine ZNS-Bestrahlung bei Kindern über 3 Jahren mit einer Dosis von 18 Gy durchgeführt und randomisiert mit einer reduzierten Dosis von 12 Gy verglichen. Bei manifestem initialen ZNS-Befall wird mit 18 Gy bestrahlt. Kinder unter 3 Jahren erhalten reduzierte Dosen.
Hämatopoetische Stammzelltransplantation
Der Stellenwert der Stammzelltransplantation (SZT) in erster Remission bei Kindern mit AML ist international Gegenstand der Diskussion. Die SZT stellt eine besondere Form der Therapieintensivierung dar. Der antileukämische Effekt der allogenen SZT entsteht durch die intensive myeloablative Konditionierung und durch den Graft-versus-Leukemia-Effekt der transplantierten Zellen. Die Konditionierung erfolgt derzeit mit Cyclophosphamid und Busulfan oder Cyclophosphamid und Ganzkörperbestrahlung. Generell sind die Rezidivraten nach allogener Knochenmarktransplantation etwas geringer als bei alleiniger Chemotherapie. Es müssen jedoch die transplantationsassoziierten Todesfälle und die schweren Langzeitnebenwirkungen wie endokrine Störungen, chronische Graft-versus-Host-Reaktion, Kardiotoxizität und Zweittumorrisiko bedacht werden. In den AML-BFM-Studien hat sich nach Transplantation in erster Remission kein Vorteil im Überleben gezeigt.
Seit 2006 werden im Rahmen der AML-BFM-2004-Studie keine Patienten mehr in erster Remission transplantiert. In zweiter Remission ist sowohl die HLA-identische Transplantation von einem Geschwisterspender (Matched sibling donor) als auch die Fremdspender-SZT indiziert. Die autologe SZT bleibt derzeit eine Option für Patienten in zweiter Remission, insbesondere bei Spätrezidiv.
Therapie spezieller Subgruppen
Akute Promyelozytenleukämie
Die gleichzeitige Gabe von ATRA und Chemotherapie ist heute Standard [Fenaux P 1999]. Bei Erwachsenen konnte zudem gezeigt werden, dass mit Idarubicin als alleinigem Zytostatikum in Kombination mit ATRA gute Ergebnisse erreichbar sind. Hieraus wurde gefolgert, dass auf Cytarabin in der Induktion verzichtet werden kann [Lo Coco F 1998]. Zusätzliche Daten vom M.D. Anderson Hospital und von der PETHEMA-Gruppe [Mandelli F 1997] ergaben, dass Cytarabin auch in der Konsolidierung entbehrlich ist, wenn Anthrazykline gegeben werden [Lo Coco F 1998].
Bei Kindern sollte jedoch bedacht werden, dass die Toleranzgrenze für kumulative Anthrazyklindosen niedriger liegt und dass daher Erwachsenenprotokolle für die akute Promyelozytenleukämie nicht ohne Weiteres zu übernehmen sind. In den AML-BFM-Studien liegen die kumulativen Antrazyklindosen für Patienten mit AML M3 bei 300-350 mg/m²KOF.
Down-Syndrom
Im Gegensatz zur bekannten schlechten Prognose bei Kindern ohne Down-Syndrom und bei Erwachsenen mit AML M7 weisen AML-Patienten mit Down-Syndrom höhere Überlebensraten auf [Zipurksy A 1994].
Diese Kinder sprechen gut auf die Chemotherapie an [Ravindranath Y 1992], was möglicherweise mit einem verstärkten intrazellulären Metabolismus von Cytarabin zu Cytarabintriphosphat in den Down-Syndrom-Zellen begründbar ist [Taub WJ 1999]. Thrombozytopenien sind die vorherrschenden Auffälligkeiten im Frühstadium der AML M7 bei Down-Patienten. Darum sollte bei Petechien oder bei Thrombozytopenie eine Knochenmarkbiopsie durchgeführt werden. Wenn die Diagnose der M7-Leukämie bestätigt wird, sollte eine Behandlung so bald wie möglich beginnen. Es wird jedoch aufgrund der niedrigen Rezidivraten [Ravindranath Y 1992] [Thalhammer-Scherrer R 2002] [Zipursky A 1994] und der hohen Response-Raten empfohlen, eine Überbehandlung zu vermeiden. Im Rahmen der AML-BFM-Studien wurde die Standard-AML-Therapie mit einer einmaligen Gabe von hochdosiertem Cytarabin und mit reduzierten Anthrazyklingaben sowie Verzicht auf die Schädelbestrahlung empfohlen. Mit dieser reduzierten Chemotherapie und einer entsprechenden supportiven Behandlung konnte das Risiko infektionsbedingter Todesfälle reduziert werden [Creutzig U 2005a]. Inzwischen wurde dieser Therapieplan für Kinder mit AML und Down-Syndrom bezüglich Dosis und Länge noch weiter reduziert und kommt im Rahmen einer europaweiten Empfehlung zum Einsatz.
Transientes myeloproliferatives Syndrom (TMS)
Eine weitere Besonderheit ist das Auftreten eines transienten myeloproliferativen Syndroms (TMS) bei Neugeborenen mit Down-Syndrom (vgl. Abb. 8.16).
Das hämatologische Bild der akuten Leukämie ist bei diesen Neugeborenen identisch mit dem der akuten Leukämie älterer Kinder mit Down-Syndrom. Bei den TMS-Patienten kommt es jedoch ohne spezifische Chemotherapie zu einer spontanen Remission [Creutzig U 1998].
Allerdings ist eine intensive Supportivtherapie zur Reduzierung der Hyperviskosität und zur Behandlung der teilweise schweren Gerinnungsstörungen erforderlich. Ebenso können Erythrozyten- und Thrombozytentransfusionen notwendig sein. Als weitere TMS-assoziierte Komplikation kann eine akute Lebertoxizität auftreten, die wahrscheinlich Ausdruck einer persistierenden extramedullären Blutbildung ist und durch Zytokinfreisetzung zur Leberfibrose führen kann. Die leukämischen Blasten zeigen morphologische und immunologische Merkmale der akuten Megakaryoblastenleukämie (AML M7). Bei manchen Patienten werden zusätzliche klonale Aberrationen wie die Trisomie 8 beobachtet, die in klinischer Remission verschwinden. In Einzelfällen wurden im Gegensatz zum Blastenwachstum bei älteren Kindern mit Down-Syndrom und bei Patienten ohne Down-Syndrom in den In-vitro-Zellkulturen ein normales Wachstum und eine normale Differenzierung der TMS-Blasten nachgewiesen. Es ist anzunehmen, dass der initiale proliferierende Zellklon seinen Wachstumsvorteil und den Reifungsvorteil verliert, was zu einer spontanen Remission bei Neugeborenen mit Down-Syndrom und TMS führt. Auf der anderen Seite haben diese Kinder ein deutlich erhöhtes Risiko von etwa 20%, während der folgenden 2-4 Lebensjahre eine AML zu entwickeln. Aus diesem Grund ist eine engmaschige Überwachung dieser Patienten notwendig.
Nachsorge
In der Spätfolgendiagnostik sind gezielte Untersuchungen notwendig, um organbezogene Spätfolgen zu erkennen, beispielsweise
- kardiologische (Anthrazyklinkardiomyopathie),
- endokrinologische (durch Alkylanzien und Strahlentherapie),
- hepatische (durch ARA-C oder infektiös bedingt) und
- zentralnervöse (nach Schädelbestrahlung).
Diagnose des Rezidivs: Die Diagnose des Rezidivs wird wie bei der De-novo-AML durch eine Knochenmarkpunktion in Verbindung mit dem Blutbild gestellt. In Tabelle 8.13 werden die Definitionen für Rezidive mit unterschiedlicher Lokalisation genannt.
Tab. 8.13: Definitionen für Rezidive mit unterschiedlicher Lokalisation | Bezeichnung | Definition | Isoliertes Knochenmarkrezidiv | >/= 5% eindeutige Myeloblasten im Knochenmark (Kontrolle bei niedrigem Blastenanteil notwendig) | Isoliertes Rezidiv des Zentralnervensystems* | - Zellzahl von >5/mm³ Liquor und morphologisch eindeutig identifizierbare Myeloblasten
- Vorliegen einer intrakraniellen Raumforderung (kraniale Computer- oder Magnetresonanztomographie) ohne Blasten im Liquor
| Isoliertes Hodenrezidiv** | Uni- oder bilaterale, schmerzlose, harte Hodenschwellung (Hodenvolumen um >2 Standardabweichungen größer als die Norm, gemessen mittels Prader-Orchidometer) | Isolierte Infiltrate an anderen Lokalisationen | Nachweis durch Biopsie erforderlich | Kombinierte Rezidive | Simultaner Befall von 2 oder mehr Kompartimenten/Lokalisationen*** | * Die Blut- oder Knochenmarkbeurteilung ist zur Klärung der Diagnose "isoliertes Rezidiv des Zentralnervensystems" notwendig, bei Hirntumor die bioptische Sicherung. ** Diagnosestellung des isolierten Hodenrezidivs durch Biopsie beider Hoden *** Bei kombinierten Rezidiven gilt das Knochenmark als mitbefallen, wenn es >5% leukämische Blasten aufweist. |
Therapie des Rezidivs
Für die Therapie des Rezidivs steht ein internationales Behandlungsprotokoll zur Verfügung, mit dem durch eine erneute Induktionstherapie eine zweite Remission erreicht werden soll. Nach Erreichen einer erneuten Remission ist eine allogene SZT indiziert. Wenn kein geeigneter Spender identifiziert werden kann, kommt insbesondere bei Spätrezidiven (Remissionsdauer von mehr als einem Jahr) auch eine autologe SZT infrage.
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